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  • Bruno Küttel

Brief an Alice


Liebe Alice,

Sei herzlich begrüsst von deinem Opa auf dieser unserer Erde!

Neun Monate totale Geborgenheit und jetzt die grosse Freiheit! – Noch nicht ganz, würde ich sagen, aber ein schönes Stück Freiheit dazu. Jetzt atmest du schon selbst. Und du isst, wenn du essen willst. Also eigentlich trinkst du mehr. Das Beissen wird noch kommen, da brauchst du noch ein wenig Geduld. Aber freu dich! All diese feinen Sachen, die unsere Welt auch dir zu bieten hat. Da gibt es viel zu entdecken … Aber zurzeit ist deine Mama ja noch froh, dass du noch keine Zähne … Das käme nicht gut mit Zähnen.

Und apropos Essen-wenn-du-willst: So ganz stimmt das auch nicht, weil … Deine Mama ist natürlich nicht immer sofort bereit, wenn es dich … Du weisst schon, was ich meine. Die Mama muss ja auch für sich … Aber meistens … Du bist ihr Augenstern und so macht sie, was sie kann deine Wünsche betreffend.

Und das mit dem Schlafen: Das musst du noch lernen … Die Nacht, liebe Alice, ist eigentlich zum Schlafen gedacht … Aber ich weiss, dass da, wo du herkommst, das mit dieser Nacht … Da war es noch ein bisschen anders. Und Tag war, wenn sich die Mama … Wobei: Mit Bewegen war das so eine Sache in der letzten Zeit. Die Mama war nicht mehr so beweglich … Also Alice, ich verstehe, dass du mit diesem Tag-und-Nacht-Ding noch ein bisschen Mühe hast. Aber du wirst es schon noch lernen. Wie alles, was du noch lernen musst. Eigentlich unglaublich, was wir alles lernen müssen. Ich staune, was ich schon alles lernte – ich und Oma, und deine andere Oma, und dein Papa und deine Mama und und und. Alle müssen wir immer lernen! Lernen, lernen, lernen … ohne Ende.

Jetzt bin ich bald schon alt. Du würdest sagen, ich sei es schon. Aber ich denke … Das ist alles eine Frage der Perspektive. Zwischen 60 Jahren und 5 Tagen ist gewiss … Für dich bin ich alt, weil wenn du denkst, was sein wird, wenn du einmal … Dann bin ich wahrscheinlich nicht mehr da … Aber man kann ja nie wissen … Also wenn du dann 60 bis, bin ich 120 … Oder wäre ich, wenn … Wie gesagt, man weiss ja nie. Und sonst bin ich irgendwo – im Himmel, oder wie ihr dann sagt, oder im Vorzimmer zum Himmel bestimmt … Oder vielleicht sagt ihr dann «Geistige Welt» oder «Welt hinter den Schleiern», wie einige schon heute sagen … Oder ihr braucht ganz andere Worte, habt andere Bilder, die euch helfen, das Rätsel zu erklären, das auch für euch vielleicht ein Rätsel bleibt – es sei denn, ihr habt es bis dann gelöst, man weiss ja nie, was in 60 Jahren … Aber andererseits: Es ist doch schön, dass es noch Rätsel gibt. Stell dir vor, Alice, es gäbe keine Rätsel mehr! Es gäbe nichts mehr zu ergründen! Das wäre doch schade, weil: Rätsel sind Anlass für Phantasie. Und Phantasie ist Nährstoff wie das Essen – das Trinken für dich zurzeit.

Und Phantasie ist wie Träumen. Weisst du, was ich meine? Das weisst du doch bestimmt, weil: Träumen, das geht ja schon, wenn man – Frau auch – noch vollversorgt in Mamas Bauch … So stelle ich mir das vor. Der Traum hat keine Grenzen, keinen Anfang und kein Ende. Woher er kommt, das wissen wir nicht, und wir wissen auch nicht, wo er endet. Es gibt Leute auf dieser Erde – die gibt es schon lang –, die sagen: «Am Anfang war das Wort». Aber ich glaube, dass noch vor dem Wort der Traum … So stelle ich mir das vor. Da erlaube ich mir, liebe Alice, meine eigene Meinung … Dein Opa ist da ein bisschen eigen, ich weiss. Aber eigen zu sein, ist schön. Wer einmal 60 ist, der darf das. Der darf wieder eigen sein, wie er es als Kind einmal war. Wer schon 60 Jahre lebt, ist auch ein bisschen weise. Oder er ist auf jeden Fall nicht dümmer geworden über die Jahre, bei all dem, was er lernte … Und wäre er nicht ein bisschen weise, wäre er auf jeden Fall ein bisschen alt. Nur ein bisschen. Noch nicht richtig alt, weil: Ein paar Jahre sind noch da, im besseren Fall sogar ein paar Jahrzehnte, um Neues noch zu entdecken. Nicht noch einmal 60 Jahre, das muss nicht unbedingt sein, aber … Es wäre schon schön, wenn ich miterleben dürfte, wie du deine Sachen lernst. Und wer weiss, vielleicht lernen wir das eine oder andere ja auch zusammen? Oder du lehrst es mich … Oder ich lehre es dich … Aber ja, ich weiss, Weisheit ist nicht alles … und man muss sie selbst erringen – während 60 und mehr Jahren.

60 Jahre sind lang, wenn du sie vor dir hast, da ist so vieles möglich. Aber wenn du dann zurückschaust, sind die 60 Jahre unglaublich schnell vergangen. Das wird dir nicht anders ergehen, liebe Alice. Was da alles geschah! Was wir alles erlebten! Nicht zu glauben, aber trotzdem ist es wahr. Fast wahr auf jeden Fall. Weisst du, was ich meine? Wahrscheinlich weisst du das noch nicht, aber du wirst es mit der Zeit erfahren, weil: Dein Opa erzählt fürs Leben gern Geschichten, und Geschichten … Die Gedanken, liebe Alice, die Gedanken seien frei, sagt man. Für die Geschichten gilt das erst recht. So sind die Geschichten wahr irgendwie, und sonst sind sie gut erfunden … Und wenn eine Geschichte gut ist, die du erlebt hast, kannst du sie … Davon kann dein Papa ein Lied singen. Die wirklich guten Geschichten – so sehe ich das –, sind die, die uns das Leben schreibt. Und sie werden immer besser, wie beim guten Wein – aber dafür bist du noch zu jung –, das heisst: natürlich werden sie auch älter, und auch der Wein wird irgendwann ausgetrunken, weil … Du weisst, was ich meine, wenn du selbst einmal alt bist – oder älter wie ich … Und das eine oder andere Weise weisst du auch schon früher. Ich freue mich, liebe Alice, auf das, was ich dir zeigen darf in dieser unserer Welt, und ich freue mich auf das, was du mir zeigst. Ich freue mich auf die Geschichten, die wir uns erzählen. In diesem Sinn: Sei herzlich willkommen, Alice, bei uns auf dieser Erde!

Dein Opa Bruno

PS: Und jetzt, Alice, mache ich mich daran, dieses Buch das erste Mal zu lesen, das ich vor Jahren erwarb … So mache ich das oft: Ich kaufe ein Buch, weil es mir gefällt und weil ich denke, dass seine Zeit noch kommt. Dann will ich es greifbar haben. So warten noch manche Bücher bei mir im Gestell, bis ich sie … Das Buch, das ich jetzt meine, wurde vor langer Zeit … Das ist das Schöne an den Büchern, dass sie immer wieder da sind, auch wenn sie längst … Aber was höre ich dich sagen? Du fragst, was Bücher sind? Das wirst du noch entdecken. Für den Moment musst du nur wissen – oder eigentlich nicht einmal das –, dass das diese Dinger sind, die der Papa und die Mama in den Händen halten, wenn du sie einmal lässt, wenn sie auf dem Sofa sitzen oder liegen, dann Papier um Papier wenden – oder sie schauen in ein kleines Kästchen, von dem du bald mehr verstehst als ich –, bis ihnen die Augen zufallen, weil sie zu wenig Schlaf in der Nacht … weil du … Aber da kannst du ja nichts dafür. Du bist ja noch am Lernen … Aber was wollte ich jetzt noch sagen? … So ist halt dein Opa, wenn er ins Erzählen kommt … Also ich wollte dir noch sagen, dass ich jetzt dieses schöne Buch lesen will – schön wegen den Bildern, gelesen habe ich es ja noch nicht. Also dieses schöne Buch, liebe Alice, das ich als nächstes lese, heisst «Alice im Wunderland». – Wie wunderbar das passt!

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