Josef ist ein Freund von mir, wir gingen schon zusammen zur Schule. Vier Freunde sind wir aus jener Zeit, die jedes Jahr einmal ein Raclette zusammen essen. Wir sind alle vier gleich alt, sechzig in diesem Jahr. Josef ist ein Bauer. Er schenkte mir zu meinem runden Fest ein Buch mit dem Titel: «Die Schweizer Landwirtschaft stirbt leise – Lasst die Bauern wieder Bauern sein». Ein Plädoyer, kein lautes, für einen Wandel, den ich mit den Worten des Autors wie folgt zusammenfasse: «Wieder mit der Sonne arbeiten, statt anderen auf den Füssen zu stehen». Er meint den ökologischen Fussabdruck, die Spur, die wir auf der Erde hinterlassen. Zurzeit leben wir auf grossem Fuss auf Kosten unserer Kinder, auch in der Landwirtschaft. Was der Autor zum Thema sagt, ist für Josef Alltag.
Jetzt wird auch Josef sechzig. Auch ich schenke ihm ein Buch. Und ich schreibe ihm ein paar Zeilen: Das Buch, das ich von dir erhielt, habe ich zu lesen begonnen. Eine wirklich schöne Sprache! Und was den Inhalt anbelangt: Um die Landwirtschaft geht es auch. Aber es geht noch um viel mehr. Es geht um das, was uns schon umtrieb, als wir in jungen Jahren diese Grünen der ersten Stunde waren. Und wenn ich es richtig sehe, war dieser Autor auch einer von uns, oder er ging uns ein Stück voraus. Es ging und geht bei ihm wie auch bei uns um eine neue Haltung, die eigentlich nicht neu ist … Im Buch von der Landwirtschaft geht es auch um die Parabel vom Igel und vom Hasen. Der Hase rennt und rennt, aber am Ende einer Strecke ist der Igel immer schon da. Als ich es las, fiel mir ein, dass ich auch einmal, in einem meiner Bücher, von einem Igel schrieb. Von einem Igel und einem Fuchs.
… In der Zeitung wird heute ein Buch vorgestellt: «Gerechtigkeit für Igel», 800 Seiten stark, des amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin. Der Buchtitel spiele auf den berühmten Satz des Archilochos an, demzufolge der Fuchs viele Dinge, der Igel aber eine grosse Sache weiss. Nicht, dass ich Dworkins Wälzer lesen möchte, den Grundgedanken aber, den der Rezensent als Essenz dem Buch entnahm, finde ich schön. In Dworkins Buch gehe es um die grosse Sache der moralischen Werte, die in Bezug auf den Sinn des Lebens eine Rolle spielten. Dass es einen solchen Sinn des Daseins gebe, davon sei Dworkin überzeugt. Seiner Meinung nach bestehe er darin, «ein gelungenes Leben zu führen». Dworkin sage wörtlich: «Das Leben hat keinen dauerhaften Wert und keinen Sinn, der über diesen Imperativ hinausgeht – und mehr brauchen wir nicht. Tatsächlich ist das ganz wunderbar.» Mich erinnert, was Dworkin sagt, an einen anderen Amerikaner, der vor langer Zeit … Mag sein, dass das Wunderbare, das Dworkin heute meint, das Gleiche ist, das Thoreau damals meinte, als er von dem sprach, was wir im Herzen tragen und mit dem wir Wunder wirken, wenn …? Und das vom Igel und vom Fuchs, das dem Buch den Titel gab, kommt mir auch bekannt vor. Das ist irgendwie die Geschichte, die ich auch selber immer wieder erzähle, auf immer wieder abgewandelte Weise. Ich bin ein Fuchs mit vielen Dingen, der nach und nach erkennt, dass er mehr ein Igel ist. Ich weiss nicht wirklich viel, dafür aber etwas Grosses … Das schrieb ich vor ein paar Jahren … Aber ich hätte es ebenso gut … Und jetzt, lieber Josef, fällt mir beim Wiederlesen ein anderes Buch noch ein: Arno Gruen, «Dem Leben entfremdet – Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden». Was nachhallt bei mir von diesem Buch: Das Warum, wie es im Titel steht, wird meisterhaft gezeigt. Was aber das Wie anbelangt, bleibt das meiste offen, und das ist gut so, nach meinem Empfinden, denn den Weg zu seinem Empfinden muss jeder selber finden … Und so bleibt mir noch zu wählen, ob ich dir … oder … Aber 800 Seiten … Das muss nicht sein … Ich wünsche dir für die nächsten 20, 30 oder vielleicht sogar 40 Jahre … und auf noch manches Raclette, das wir zusammen geniessen!!! Herzlich, Bruno.
Und wo wir es gerade vom Käse haben, noch ein PS, das passt. Um Wissen und Weisheit geht es am unerwarteten Ort, denn selbst in der Werbung … aber sie ist dort gut versteckt. Oder es entsteht erst Weisheit, wenn wir uns die Freiheit nehmen, einen Slogan in unserem Sinn zu verwenden. FIGUGEGL zum Beispiel. Fondue ist gut und gibt eine gute Laune. Du ziehst dein Stückchen Brot durch den Käse in der Pfanne, dann hebst du die Gabel in die Luft und drehst, drehst, drehst … Es soll der Käse, der aus der Pfanne Fäden zieht, am Brot auch hängen bleiben. Dann gehen Brot und Käse in den Mund und in den Magen … Fondue ist nahrhaft. Das aber ist es nicht, was am Fondue gute Laune macht. Die Esser, die essend meditieren, sitzen um die Mitte, sitzen um den Tisch. So macht das Fondue auch die Herzen warm. Ein Fondue isst du nie allein. Und auch beim Raclette ist das nicht anders. Danke für deine Freundschaft und für das Zusammensein, jedes Jahr einmal – und zwei-, dreimal dazu, wenn wir runde Geburtstage feiern.
Und dann fällt mir noch etwas ein: Gestern, als ich beim Coiffeur war – einer von der alten Sorte, ohne Anmeldung, mit Warten – war ein anderer vor mir noch dran, den ich nicht kannte. Er erzählte von den Tieren und den Bäumen, von Obst und Most und Fleisch … Und als er unter der Tür stand, mit neuem, sauberem Schnitt, schaute er bei den letzten Worten auch mich an, mit einem tief empfundenen Blick … Er sprach vom Kälbchen, das … Da sei alles gut gegangen … und dann sei es eine Viertelstunde später … Das müsse man annehmen … Da könne man nichts machen … Und auf dem Weg nach Hause denke ich: Das musste jetzt so sein … dass dieser Bauer, den ich nicht kannte … Ein feiner Mensch sei das, sagte Norbert, mein Coiffeur, der seinen Hof seit vielen Jahren … Er gehe gegen die Siebzig … Das sei noch ein Bauer, der … Ein ganz feiner Mensch! – Das wollte ich noch erzählen, weil es nach meinem Empfinden … Aber erklären … erklären kann ich es nicht.
Und ein paar Tage später: Lieber Josef, die Geschichte, die ich dir sandte, endete mit den Worten … Dort heisst es jetzt aber anders: «… erklären will ich es nicht.» Denn können täte ich schon, und bei dir will ich jetzt auch. Mag sein, dass es dich ein wenig irritiert, wenn ich, der ich ein Anwalt bin, also ein vernünftiger Mensch, solche Geschichten schreibe. Dann fragst du dich: Warum macht er das? Warum hängt er seine Gefühle an die grosse Glocke? – Ja, warum? Weil ich tatsächlich glaube, dass der grundlegende Wandel, den es braucht, mit Denken und Vernunft zwar einiges zu tun hat, aber ebenso viel mit Gefühlen. Ich habe dir und den anderen beiden in unserem Quartett vor Jahren ein Buch geschenkt, von dem ich begeistert war: Margret Kennedy, «Geld ohne Zins und Inflation». Überzeugend von A bis Z, was diese und andere Autoren, damals und früher, zur Geldfrage sagten … Und trotzdem, obwohl der Verstand … geschieht der Wandel, den es bräuchte … Im Gegenteil, es wird immer noch verrückter … Das Geld frisst alles auf, wenn wir es fressen lassen … sogar die Landwirtschaft … Und wie lässt sich das nun ändern? Es gibt ein Rezept! Nur eines! Auch wenn es sich in tausend Formen zeigt … Es geht um die Gefühle … Das ist es, was, nach meinem Empfinden, der Psychoanalytiker Gruen mit seinem «Warum wir wieder lernen müssen …» meint. Oder wenn ich es mit den Worten eines Dichters, Tomas Tranströmer, sage: «Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich / und flüsterte durch den ganzen Körper: / Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz! / In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos. / Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.»
Um dieses Schämen, Josef, geht es. Um die Scham, die wir empfinden, wenn wir uns zeigen, auch mit den Gefühlen, wie wir wirklich sind. Insofern – das tönt total verrückt – können wir von Trump sogar etwas lernen. Dieser Präsident der USA schämt sich für nichts … Nicht dass ich nun Trump zum Vorbild erkläre. Aber stell dir vor, wie das wäre, wenn auch die feinen Menschen, von denen es viele gibt zu jeder Zeit auf dieser Welt, ohne Scham und Scheu, ganz sich selber wären?! – Aber was sage ich «wären». Sie sind es, immer mehr, aber man sieht und hört sie nicht sogleich, weil sie leiser sind und feiner als die Grobiane. Diese feinen Menschen ermutige ich, indem ich von mir erzähle, sich hören und sehen zu lassen. Diese feinen Menschen haben eine Kraft, die stärker ist als alles. Nur braucht diese Kraft … damit der Wandel … Aber eigentlich ist er längst im Gang … Oder wenn ich es anders sage: Wo grobe Menschen dunkle Schatten werfen, gibt es auch viel Licht …