Was hat der Apfelbaum vor dem Haus und seine Blütenpracht mit der Feuersbrunst von Notre-Dame zu tun? Eigentlich nichts. Aber trotzdem bringe ich das zusammen. Das ist meine eigene Art – meine Eigenart buchstäblich –, mir die Welt zu erklären.
Was in diesen Tagen geschah, hat mich berührt und bewegt. Am Sonntag vor einer Woche war ich in Zürich im Kino: «Architektur der Unendlichkeit – die Magie sakraler Räume» von Christoph Schaub. Vier Architekten, eine bildende Künstlerin und der Schlagzeuger Jojo Mayer, der das Werk von einem der Architekten auf eindrückliche Art bespielt. Die Bauten, um die es geht, sind Kirchen und Kapellen, und in einem Fall ist es ein Museum. Wobei «Museum» eigentlich nicht passt. Dieses Gebäude in Giornico im Tessin ist ebenso eine Kirche, wiewohl allein dem Werk des Bildhauers Hans Josephsohn gewidmet.
Dann kam mir nach dem Kinobesuch ein Buch in die Hand: «Die Weisheit der Esel – Ruhe finden in einer chaotischen Welt» von Andy Merrifield. Ich begann sogleich zu lesen. Da war – aber das erkannte ich erst am Montag, nach einigen Seiten Lektüre – auch von Jesus die Rede, der am Beginn seiner Leidenszeit nicht hoch zu Ross, sondern auf dem Rücken einer Eselin in Jerusalem einritt. Es war Palmsonntag, als ich das Buch kaufte, ohne dass ich an Palmsonntag dachte. Und trotzdem kam auf eigenartige Weise «die Magie des Sakralen» mit der «Passion» zusammen, denn am anderen Tag … Es hat mich erschüttert, als ich die Bilder sah, und zugleich hatte es auch etwas Erhebendes. Ich hatte das Gefühl, dass in diesem Moment viele Menschen weltweit sich mit dem Geschehen, das sie sehen, verbinden, und also auch mit all den anderen Menschen, die ihren Blick darauf richten. Ich wusste glasklar, dass das ein Moment des Erkennens war für viele. Dass das «Herz in Flammen stand», auch das war mir klar. Und dass die Politiker vom «brennenden Herzen» von Frankreich, von Europa, von … sprachen, hat ebenfalls gepasst.
Und am Tag danach die Bilder aus dem Inneren der Kirche. Zu meinem Erstaunen: Die Mauern und die Säulen, zum Teil sogar das Gewölbe, waren noch da. Die Wände waren, aus der Distanz gesehen, sogar noch hell, fast weiss im Kontrast zum verkohlten Gebälk am Boden. Das Herz hatte standgehalten auch dem Feuersturm im Dach.
Und zwei, drei Tage danach schaute ich noch … und wie der Zufall es wollte, gelangte ich auf YouTube zu «Notre-Dame – die Botschaft für Ostern», von einer Kartenlegerin … Aber in der Botschaft geht es um mehr. Von der Dornenkrone-Reliquie, die aus der brennenden Kirche gerettet wurde, ist die Rede, und es wird der Bogen zum brennenden Dornbusch gespannt und zu der Stimme, die Moses aus dem Feuer … Dann googelte ich «Dornenkrone-Reliquie», weil ich mehr darüber wissen wollte, und so erfuhr ich, dass … nach der Rettung aus Notre-Dame … ins Pariser Rathaus … und hernach in den Louvre. – Vom geweihten Gotteshaus ins Haus der Politik und von dort in die heiligen Hallen der Kunst.
Und dann wollte ich mich auch über … noch ein bisschen schlauer machen, und dabei stiess ich auf eine Darstellung, die als der «Mittelteil des Triptychons des brennenden Dornbuschs von Nicolas Froment in der Kathedrale von Aix-en-Provence» bezeichnet wird. Dieses Bild ist wunderbar, da sitzt «Notre Dame» mit dem Jesuskind im Feuer. Der Busch ist ein Wald, und die Flammen, die aus den Ästen züngeln, sind die jungen Triebe – der Inbegriff von Frühling!
Und während ich das schreibe, fällt mir ein, wie sie in Paris das riesige Dachgestühl, das jetzt verbrannt ist, nannten. «Der Wald» ganz einfach, «le fôret», sagten sie zu den 1000 Eichen, wie es heisst, aus denen man das Dach vor langer Zeit baute.
Und noch etwas fiel mir ein, als ich die Bilder aus der brandgeschädigten Kirche sah: Das Dach ist weg, und wo auch das Gewölbe einbrach, geht der Blick nun ungehindert ins Freie. Das erinnert mich an Tintern Abbey in Wales, wo ich einmal war. Auch die Kirche von Tintern Abbey wurde vor langer Zeit gebaut. Dann wurde das Kloster aufgelöst, und die Gebäude verfielen zu Ruinen … bis man den Wert der Ruinen … Alle Wände der riesigen Kirche stehen noch. Sie lassen einen erleben, was es bedeutet, wenn sich Himmel und Erde … In der Kirche stehst du im Gras, und der Blick in den Himmel … Übrigens hat William Turner ein berühmtes Bild von Tintern Abbey gemalt. Und man sagt auch, dass Ken Follett für «Die Säulen der Erde» Tintern Abbey zum Vorbild nahm. – Jede Zeit, wie sich zeigt, findet ihre Formen, um uns von fern und nah mit der Kraft eines Ortes zu verbinden. Gut für unserer Zeit, dass es Notre-Dame gibt! Dabei geht es um die Werte, die Frankreich für Europa und für die Welt verkörpert. Es geht um das, was wir mit dem Herzen … Auch wenn wir «Herzlich» sagen am Ende eines Briefs. Oder «Cordialement» bei den Franzosen, als man noch Briefe schrieb.
Und was den Auftrag betrifft, den Moses erhielt, als er die Stimme aus dem Feuer … Wie die Theologen sagen, ist das einer der grossen Hoffnungstexte. Da geht es um die Überwindung von Sklaverei und Unrecht, von Gewaltherrschaft und Ausbeutung. Moses wird gerufen, um das Volk in die Freiheit … Das erinnert an die Werte … «Liberté» und «Egalité» … Die Freiheit hat es weit gebracht, im Wirtschaften vor allem. Und auch die Gleichheit hat ihre Domäne, das ist die Demokratie. Nur die «Fraternité», die Dritte, hat es immer wieder schwer. – Oder sagen wir das Mitgefühl, mit einem Wort aus unserer Zeit.
In diesem Sinn: Auch der französische Präsident hat recht, wenn er von der verletzten Seele seines Landes spricht. Aber die Verletzung war vor dem Brand schon da, und verletzt ist mehr als Frankreich. Eine Welt, in der nur Leistung zählt und Geld, Geld, Geld … generiert auch viele Verlierer, und Verlierer lassen sich verführen … So ist und bleibt das Mitgefühl – in Politik, Wirtschaft, Bildung – unverzichtbar wichtig für den Fortbestand der Freiheit und für die Demokratie. Und auch in diesem Sinn: Das Wunder jedes Jahr, wenn die Bäume wieder blühen, stärkt mir das Vertrauen, dass nach jedem Winter … Aber das ist ja klar.