Wieder einmal geht ein Dossier ins Archiv. Dabei kommt mir ein Brief in die Hand, den ich der Klientin schrieb, nachdem ihr Mann gestorben war. Ich hatte ihn beraten, ihn und seine Frau, das Testament betreffend, und nun war ich sein Willensvollstrecker, und so schrieb ich an die Frau: «Sie sind im Testament Ihres Mannes als Alleinerbin eingesetzt, jedoch belastet mit dem Vermächtnis …» Dann erklärte ich die nächsten Schritte und sagte zu guter Letzt: «Soweit das Rechtliche. Ich erlaube mir noch ein paar persönliche Worte …»
Und was ich jetzt wieder lese, ist zu schön, um im Keller zu verstauben: «… Es war nur ein kurzes Kennenlernen, als ich für Sie und Ihren Mann … Dabei erkannte ich, dass Ihnen beiden die Natur viel bedeutet – Ihrem Mann bedeutet hat –, die Tiere in erster Linie. So hat Ihr Mann im Testament auch einen Verein für Tierschutz mit einer Zuwendung bedacht. Und so passt es wunderbar, was ich gestern erlebte. Nur eine kleine Begebenheit, die mir unter anderen Umständen kaum aufgefallen wäre. Ich holte das Testament Ihres Mannes aus dem Banksafe und kam ins Büro zurück. Vor meinem Fenster an der Wand hatte sich in diesem Moment eine Libelle festgesetzt, ein wunderschönes Tier. Es blieb an seinem Platz über lange Zeit, nur wenig bewegte es sich, und mir fiel ein, dass, was ich sah, ein Sinnbild war für uns Menschen, im Leben und im Tod. Ihre ersten Jahre verbringt die Libelle im Wasser. Dann steigt sie auf an einer Pflanze, irgendwann in dunkler Nacht. Dann bricht sie aus der Schale, und aus der erdig braunen Hülle entschlüpft die ganze Pracht …»